Die "Geschichte" des LRN
Wo einst Zechen, Kokereien und Stahlwerke das Landschaftsbild bestimmten, steht die Erhaltung des heimatlichen Brauchtums vor besonderen Herausforderungen.
Der Landesverband Rechter Niederrhein stellt sich ihnen vor
Die Wurzeln des närrischen Treibens in der Region des westlichen Ruhrgebiets reichen bis tief ins Mittelalter hinein. Aus Stadtrechnungen und anderen schriftlichen Quellen geht hervor, dass schon vor Hunderten Jahren am "Fastabend" in Klöstern und Ratsstuben vor Beginn der Fastenzeit kräftig gefeiert wurde, die Jugend so manches heute zu einer Großstadt gehörenden Dorfes zu fröhlichen Heischegängen aufbrach und unter allerlei Schabernack um Brot und Wurst bettelte.
Doch das, was heute die meisten im "Helau!"-Gebiet als Karneval verstehen, ist noch eine relativ junge Erscheinung an Rhein und Ruhr. Bekanntlich ist sie der Ordnungsliebe der Preußen zu verdanken, die nach dem Sieg über Napoleon und dem Wiener Kongress 1815 in den Rheinlanden das Kommando übernahmen. Nur wenige der 114 Vereine im LRN wie die KG Alt-Walsum von 1848, die KG Hahnekopp Essen-Frohnhausen von 1862, die 1. Große KG „klein aff“ von 1883 und die Alte Oberhausener KG von 1889 können auf eine Geschichte zurück schauen, die bis ins 19. Jahrhundert reicht. Die meisten erblickten erst nach dem 1. Weltkrieg, viele mehr erst nach dem 2. Weltkrieg das Licht der närrischen Welt.
Vergleichsweise spät kamen die damaligen Akteure auf die Idee, die karnevalistischen Kräfte mehrerer Städte zu bündeln, um gemeinsam noch besser närrische Interessen vertreten zu können. Und so wurde das, was kurz darauf der Landesverband Rechter Niederrhein im Bund Deutscher Karneval wurde, erst Ende der 60-er Jahre gegründet. Damals schlossen sich die karnevalistischen Stadtverbände aus Duisburg, Essen und Mülheim/Ruhr zusammen. Letzteres fand bald Anschluss an einen anderen Regionalverband. Das Verbandsgebiet des LRN umfasst heute neben Duisburg und Essen auch Oberhausen, Ratingen, Dinslaken und Wesel.
Ein Gebiet, in dem fast zwei Millionen Menschen leben. Eine Region, in der noch vor wenigen Jahrzehnten die Schwerindustrie das Bild bestimmte, und die sich längst alle Mühe gibt, den spät eingeleiteten Strukturwandel erfolgreich zu bewältigen. Ein hoher Anteil von Migranten und soziale Brennpunkte machen den Karneval an manchem Ort nicht gerade zum Selbstläufer, auch wenn die integrative Kraft der Fünften Jahreszeit mit Blick auf das Publikum bei Umzügen und Open-Air-Veranstaltungen kaum zu leugnen ist.
Aktuell gehören dem LRN 116 Vereine mit fast 11.000 Mitgliedern an. Gut ein Drittel davon sind Kinder und Jugendliche. Der Regionalverband wird von einem Präsidium geleitet. Neben den üblichen Positionen eines Vereinsvorstandes wie Geschäftsführer, Schatzmeister und Protokollführer sind Beisitzer für besondere Aufgaben wie das Internet, den karnevalistischen Tanz oder den Förderkreis des LRN abgestellt. Dabei wird darauf geachtet, dass die von den Mitgliedsvereinen gewählten Präsidiumsmitglieder möglichst aus allen Himmelsrichtungen des Verbandsgebietes kommen.Die wichtigsten Beschlüsse werden vom so genannten Gesamtpräsidium gefasst, in das die zum LRN gehörenden Stadtverbände ihre Vertreter als Vizepräsidenten und Beisitzer entsenden.
An der Spitze des LRN steht seit Jahren Dirk Bonkhoff. Der 61-jährige, der seit 30 Jahren karnevalistische Vorstandsarbeit leistet, war zuvor schon Schatzmeister und Geschäftsführer des Verbandes. Er trat 2016 die Nachfolge von Dieter Seedorfer an, der 26 Jahre Präsident des LRN war und dem Verband als Ehrenpräsident zur Seite steht. An Bonkhoffs Seite engagieren sich die neue Geschäftsführerin Sandra Kleps, Schatzmeister Mark Sarres, Protokollführer Bodo Malsch, Beate Drießen (Fachwart Tanz), Beisitzer Gerd Rien (Archiv), Beisitzerin Iris Walter (LRN-Kurier) und Beisitzer Christoph Markes (Förderkreis). Gemeinsam lenken sie die Geschicke des Verbandes.
Der Landesverband Rechter Niederrhein sieht sich vor allem als Dienstleister für die Mitglieder. Präsident Dirk Bonkhoff hat stets ein offenes Ohr für Probleme in den Vereinen, hilft mit Rat und Tat und leitet gegebenenfalls Fragen an die zuständigen Experten des Bundes Deutscher Karneval weiter. Schon manchem Verein hat der Banker aus Essen aus der Bredouille geholfen. „Karneval soll Spaß machen. Doch damit der Karneval Freude bereiten kann, ist viel Engagement, Arbeit und Zeit notwendig“, so Bonkhoff. Der LRN veranstaltet regelmäßig Seminare für Jugendleiter, Tanztrainerinnen und zu anderen wichtigen Themen.
Die Jugendarbeit ist und bleibt das zentrale Anliegen des LRN. Corona hat erst einmal alle geplanten Aktivitäten auf Eis gelegt, darunter auch den Plan, mit närrischem Informationsmaterial Schulen im Verbandsgebiet zu besuchen. Sobald es möglich ist, soll das Projekt weiter verfolgt werden. "Wir, und das schließt alle Vereine ausdrücklich ein, müssen die jungen Menschen an den Karneval heranbringen", betont Bonkhoff. "Von allein kommen nur noch die wenigsten." Und so wird der Nachwuchswerbung nach wie vor ein großer Rahmen eingeräumt. Sie steht im Mittelpunkt des Verbandslebens.
Das war auch schon unter Bonkhoffs langjährigem Vorgänger Dieter Seedorfer so. Der hatte 1986 die damalige "Kinderparade" ins Leben gerufen. Inzwischen heißt die Veranstaltung "Närrischer Jugendtreff", und bietet den Jüngsten Akteuren im Karneval alljährlich kurz vor Beginn der Session die Möglichkeit, auf der großen Bühne einer voll besetzten Stadthalle ohne Wettbewerbsdruck die ersten karnevalistischen Schritte zu tun - natürlich nur, wenn gerade keine Pandemie tobt.
Bereits 2006 hob der LRN einen eigenen Jugendausschuss aus der Taufe und gehörte zu jenen Regionalverbänden, die aktiv an der Gründung der BDK-Jugend beteiligt waren. Die vor elf Jahren gegründete, sich selbst verwaltende Verbandsjugend des LRN hat inzwischen die Verantwortung für das Jugendtreff und für zahlreiche Schulungen übernommen. Der Präsident der Verbandsjugend – aktuell mit Laura Eisenhut eine Präsidentin - hat Sitz und Stimme im Präsidium des Verbandes. Denn: "Wer die Jugend gewinnen will, der muss ihr auch Verantwortung übertragen", so Dirk Bonkhoffs Überzeugung.
Die herausgehobene Bedeutung, die der LRN seinem Nachwuchs beimisst, lässt sich unter anderem auch an der Praxis der Vergabe von Verdienstorden ablesen. Bewusst hat sich der LRN vor mehr als zwei Jahrzehnten dazu entschieden, seine Verdienstorden in Bronze, Silber und Gold, die bei bloßer Mitgliedschaft nach 10, 20 und 30 Jahren Zugehörigkeit zu einem Verein vergeben werden, für Aktive zu halbieren. So können auch verhältnismäßig junge Karnevalisten bereits stolz demonstrieren, dass sie manchmal schon ihr ganzes Leben lang mitmachen.
Der Artikel erschien fast identisch auch in der 126. Ausgabe der Deutschen Fastnacht. Wir wollen ihn all jenen, die das Zentralorgan des Bundes Deutscher Karneval nicht abonniert haben, nicht vorenthalten.